Wilhelm Eckstein

 

(Lebenslauf, Entwurf; 9 Blätter masch.; geschrieben 1936)

 

(handschriftliche Verbesserungen wurden eingearbeitet; nicht übernommen wurde die Anglisierung der Umlaute)

 

 

[1] Im Jahre 1872 als Sohn einer angesehenen jüdischen Münchner Bürgersfamile geboren, besuchte ich neun Jahre das Wilhelmsgymnasium in München, wo ich mit dem gleichaltrigen Grafen Egon Mirbach-Geldern-Egmont, dem 1919 ermordeten ersten deutschen Botschafter in Sowjetrussland[1], ständig um die Palme des Klassenersten wetteiferte, studierte dann vier Jahre auf den Universitäten München und Berlin Jurisprudenz und Nationalökonomie, und lernte vor allem bei Professor Luho Brentano die Kunst, volkswirtschaftlich zu sehen und zu denken. Nach meinem Einjährigen-Dienstjahr und dem in Bayern vorgeschriebenen dreijährigem Vorbereitungsdienst am Amts- und Landgericht und in der Staats- und Kommunalverwaltung, nach glänzend bestandenem Staatsexamen (sogenannter Einserjurist) trat ich als junger Rechtsanwalt in die Kanzlei Bernstein-Loewenfeld in München. Rechtsanwalt Max Bernstein, einer der bedeutendsten Verteidiger Deutschlands, auch im Ausland bekannt als Anwalt Maximilian Hardens in den Eulenburgprozessen, war ebenso gross als Mensch und Menschfreund, Psycholog, Schriftsteller und Jurist, und Professor Theodor Loewenfeld[2], dessen Zivilrechtskolleg ich schon auf der Universität besucht hatte, war in deutschen Juristenkreisen geschatzt als Kapazität auf dem Gebiet des Patent- und Urheberrechts und als Mitarbeiter an dem bedeutendsten Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Ihnen, deren Mitarbeiter ich drei Jahre (1900 – 1902) war, verdanke ich es, dass ich die Pflege der Gerechtigkeit von einer höheren Warte aus als dem üblichen Partei- und Anwaltsgezänk und –geflunker erleben durfte, was mir auch [2] in der Folgezeit für meine eigene Praxis von hohem Wert war. Ich wurde aus einem Juristen, auf dem Wege über Volkswirtschaft und Psychologie, ein Naturforscher der menschlichen Gesellschaft.

 

Schon als junger Student wurde ich Mitglied des damals gegründeten Akademisch-Dramatischen Vereins und gelegentlicher Mitarbeiter des damals von Albert Langen in München ins Leben gerufenen Simplizissimus, der besten satyrischen Wochenschrift Deutschlands bis zum Ausbruch des Krieges. Ich war ein Vorkämpfer für die Aufführung der Weber von Gerhart Hauptmann, die, in Preussen verboten, in unserem Verein die Uraufführung[3] erlebten, wie wir auch eine Reihe anderer damals verpönter Stücke von Ibsen, Hauptmann, Sudermann, Wedekind zur Uraufführung in Deutschland brachten. In unserem Schriftstellerkreis, dem auch junge Maler, Musiker und Schauspieler angehörten, die später zu Bedeutung gelangten, erlebte das 19. Jahrhundert seine Sturm- und Drangperiode. Wir waren keiner politischen Partei verbunden, aber unsere Liebe gehörte dem arbeitenden Volk und wir warfen dem preussischen Offiziers-, Junker- und Kastengeist mit seinem Standesdünkel und seiner Kitschkultur, seinen Vorurteilen und seinem Säbelgerassel den Fehdehandschuh hin.

 

Ohne Mitglied einer Partei zu sein, lernte ich dann durch meine Anwaltspraxis auch das politische Parteigetriebe in Deutschland kennen, und - mit wenig Ausnahmen – verachten. Durch den Mangel an jeder wirklichen Verantwortung und Initiative wurde, ungefähr vom Tode Eugen Richters[4] an, der deutsche Parlamentarismus aus einer Volksvertretung zu einer Bonzen-, Streber-, Interessenten- und Intrigantenklique, mit wenigen leuchtenden, aber einflusslosen Ausnahmen. Die einzige Erklärung, nicht Entschuldigung, für die Abstimmung des Reichstages vom 4. August 1914 bildet die Tatsache, dass der Reichstag ja nicht über den schon vom Kaiser erklärten und vom Reichskanzler gegengezeichneten, in vollem Fluss befindlichen Krieg, sondern nur über seine Finanzierung zu stimmen hatte und dass selbst ein einstimmiges Votum des Reichstages gegen die Kriegskredite nicht den Krieg aufgehalten, sondern nur den Reichstag vollständig ausgeschaltet und 20 Jahre früher den Zustand der Militärdiktatur hergestellt hätte, wie er seit 1933 in Deutschland besteht. Mit gewohnter Sorgfalt hatte die Reichsregierung schon ein paar Monate vor dem Krieg eine Generalprobe unternommen, was man dem Reichstag an Affront und Missachtung bieten können - die Zabernaffaire.

 

Schon in den ersten Kriegstagen hatte ich Besprechungen mit meinem Schulkameraden Graf Mirbach, der damals deutscher Gesandter in Athen[5], zu einem kurzen Urlaub nach München gekommen war; mit dem Freiherrn Ottmar von Gumppenberg-Pöttmes-Oberbrennberg[6] (unter drei Namen tun es die Herren nicht), aus einem alten fränkischen Adelsgeschlecht, der unter dem Kommando des deutschen Kronprinzen als junger Leutnant bei den Totenkopfhusaren in Danzig-Langfuhr gedient hatte, dann als Adjutant Enver Paschas die Balkankriege mitgemacht und bei Ausbruch des Weltkrieges aus Durazzo heimgekehrt war. Ich war während der Jahre seiner Abwesenheit sein Anwaltsberater und Vermögensverwalter gewesen. Ferner hatte ich zwei Unterredungen anlässlich Zensurfragen mit Freiherr Falkner von Sonnenberg[7], damals Major im bayerischen Kriegsministerium; der Genannte war während des Mahdi-Aufstandes im Sudan Kriegsberichterstatter der Münchner Neuesten Nachrichten im Lager Kitcheners und guter Kenner der englischen Armee. Aus diesen Besprechungen [3] gewann ich manchen wertvollen Einblick und vor allem den Eindruck, dass diese an der Quelle sitzenden Herren mit grösster Besorgnis und wie vor den Kopf geschlagen dem Gang der Ereignisse entgegensahen, in krassem Gegensatz zu dem damaligen Kriegstaumel der aufgeputschten Volksmasse, namentlich in München. Mir kam ein einige Jahre vorher, in der "Zukunft" erschienener Artikel ins Gedächtnis; der, wenn auch auf Hintertreppen, gut unterrichtete Maximilian Harden schrieb damals ungefähr: es sei unglaublich und unerhört, dass der deutsche Kaiser an die verantwortungsvollste Stelle des Deutschen Reiches einen Mann berufen habe, der für sein Amt nichts mitbringe wie des Namen seines Oheims. Hellmut Moltke habe selbst dem Kaiser erklärt, er fühle sich dem angetragenen Amt als Chef des Generalstabs und Nachfolger Schlieffens nicht gewachsen; aber der Kaiser habe ihm geantwortet: "Na das bisschen Friedensarbeit werden Sie schon machen können, und im Krieg bin ja ohnehin ich der oberste Befehlshaber."

 

Am 21. August 1914 wurde ich als Gefreiter zum ersten Münchner Landsturmbataillon einberufen, am 25. August nahmen wir Abschied von der Heimat, exerzierten einige Tage in der Umgebung von Zweibrücken und marschierten Anfang September bei grosser Hitze über das Schlachtfeld von Lothringen, wo die schlecht eingescharrten Leichen ihren Verwesungsgeruch verbreiteten, nach Dieuze, wo wir, nur wenige Kilometer hinter der vordersten Linie, die ersten Eindrücke des Krieges schauernd erlebten. Was ich dann als Menschen- und Friedensfreund, als 42jähriger, wissender und sehender Mann bis zu meiner Rückkehr im März 1920 während des Kapp-Putsches erfahren und erlitten habe, damit kann ich Bände füllen.

 

Sehr bald erkannte ich, dass der Krieg gar kein wirkliches Ziel hatte, dass er ein "Kaisermanöver mit geladenen Waffen" eines grössenwahnsinnigen Cäsaren war, für 2 bis 3 Monate Dauer berechnet, dass er im Oktober 1914 auch militärisch versackte und an der Westfront, wo allein die Entscheidung fallen konnte, in einen beiderseits sinn- und planlosen Stellungskrieg auswartete, dessen einzige Lösung die Revolution in Deutschland, Sturz der Hohenzollern und Zertrümmerung des preussischen Militarismus sein konnte. Ich hatte in der Kompagnie einen sehr klugen Kameraden. Wir debattierten oft stundenlang und tauften Ende Oktober 1914 den Krieg "Weltkrieg 1914-17". Ich machte an der Front kein Geheimnis aus meiner Ansicht; ich war sehr angesehen unter meinen Kameraden und keiner hatte mich denunziert. Auf die Frage, wie ich das berechnet hätte, erwiderte ich: aus der Tapferkeit mal Dummheit des deutschen Volkes.

 

Ich zog in den Krieg mit dem Gelöbnis, niemals von meiner Waffe Gebrauch zu machen, und mein erstes Kriegstagebuch beginnt mit den Worten Goethes als Motto: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!", mein zweites mit den Versen aus Tasso: "Und wenn das Herz in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen was ich leide." Am Ende des Bewegungskrieges kamen Monate ödesten Wachdienstes für den Landsturm, Tag und Nacht, Woche für Woche ohne Ablösung. [4] Ich war oft, wenn ich nicht Sonderaufträge in der Etappe hatte, als Wachhabender zur Bahn- und Brückenbewachung kommandiert,. In dieser Zeit begann ich, mangels anderer Beschäftigung, alles, was meine Seele bewegte, in Form von Gedichten meinen Tagebüchern stenographisch anzuvertrauen.

 

Ich bin von Natur kein Revolutionär. Aber die Revolution war die einige Lösung. In hundert schlaflosen Nächten wälzte ich die Probleme, wie diese Lösung herbeizuführen wäre. Nichts kommt von selbst, weder Krieg noch Frieden. Menschen müssen es machen. Und wenn kein anderer auf den Plan trat, so musste eben ich in die Bresche springen. Das war meine Pflicht gegenüber meinem Volk und Vaterland. Aber wie macht man Revolution??? Täglich machte ich Studien, sprach mit unzähligen deutschen Kameraden aller Waffengattungen, aller Volksschichten - Bauern, Arbeitern, Subalternbeamten, Kaufleuten, Intellektuellen -, aller Volksstämme - Preussen, Bayern, Sachsen, Schwaben, Rheinländer. Ich untersuchte, ohne dass sie es merkten, ihre Sinnesart, wie sie auf Fragen antworteten, auf überraschende Ansprachen reagierten, wie die den Krieg erlebten und den Frieden herbeisehnten. Resultate dieser Forschungen sind in einer Anzahl Gedichten festgehalten.

 

Ich stellte fest: Niemand kämpfte für den Kaiser. Die Meisten hassten ihre Vorgesetzten, namentlich die Berufsoffiziere, vor allem die jungen Schnösel, die mit Arroganz und ohne Erfahrung auftraten, und die Generäle und höheren Stäbe, die sich in den dicksten Unterständen eingruben und im Augenblick der Gefahr unsichtbar waren. Nur von den aus dem Bürgerstand hervorgegangenen tapferen Reserveoffizieren hatten sie Respekt. Grossen Eindruck machte es, wenn man ihnen erklärte, dass nur der Kaiser und einige Generäle und Admiräle seiner Umgebung am Krieg Schuld seien, nicht die Franzosen, nicht die Engländer oder Russen; dass die "Kapitalisten", die Heimkrieger, die sich am Krieg bereicherten, erst durch den Krieg und die Kriegsvorbereitungen gezüchtet worden sind; dass England nicht aus Neid, sondern nur infolge seiner Vertragspflicht gegen das von Deutschland  wortbrüchig überfallene Belgien in den Krieg eingetreten sei; dass und warum nicht die serbische, sondern die ungarische Regierung hinter dem Mord in Sarajewo stehe.

 

Aber als das wurde überdeckt durch die Fragen: Sei dem wie es sein mag, was können wir tun? Wir müssen kämpfen und siegen, um den Frieden zu bekommen, um unsere Heimat, Weib und Kind vor den Greueln des Krieges zu schützen; sonst geht es uns so, wie es hier den Franzosen ergeht. Die erbarmungslose Kriegführung und Zerstörungswut Falkenhayns und Ludendorffs war in erster Linie zur Erweckung des Durchhaltegeistes der deutschen Truppen bestimmt.

 

Hier musste der Hebel eingesetzt werden. Die Furcht vor den Schrecken der Niederlage musste bekämpft werden, die Klügsten und moralisch Besten der Deutschen mussten gewonnen werden. Aber das war nur mit Hilfe der Entente möglich, und nur von der Front her. Nur an der Front hatte das Volk die Waffen, ohne die eine Revolution unmöglich war. Das Binnenland war, wie ich mich in drei Kurzen Urlauben 1915/16 überzeugt hatte, vollkommen apathisch, unwissend, dumpf wie eine Herde Schafe im Gewitter, es liess Krieg, Hungersnot, Kindersterben über sich ergehen, wie ein Erdbeben, eine Naturgewalt, gegen die die meschliche Kraft machtlos ist. [5] Man entsetze sich, wenn ich daheim im engsten Freundeskreise zu sprechen anfing, wie ich es unter meinen Kameraden draussen täglich gewohnt war.

 

Instinktiv hatte ich seit Ende 1914 fast nur noch Gedichte in mein Tagebuch geschrieben. 1916, während wir die Zufahrtsbahnen zwischen Priesterwald und Verdun bewachten, 3 - 4 km hinter der Front, und die unendlichen Transportzüge mit Verwundeten und verstümmelten an uns vorbeirollten, begann ich, sie vertrauten Kameraden vorzulesen und ihre Wirkung zu beobachten. Ihre Wirkung war über Erwarten gross. Ich sah vierzigjährige Männer weinen, während ich las. Es wurde mir klar: Prosa kann jeder schreiben, auch ein Überläufer im Solde des Feindes. Aber dichten kann man nur mit seinem Herzblut.

 

Am 12. Oktober 1916 überschritt ich abends in dichtem Nebel eine ruhige Stelle der Front bei Apremont, wo unser Bataillon damals stand. Ich kam mit einem flatternden weissen Tuch zur französischen Feldwache, um "als Parlamentär der zu gründenden deutschen Republik" der französischen Regierung zu sagen:

 

"Warum kämpft ihr wie die Indianer mit Pfeilen und Tomahaks gegen unsere Kriegsmaschine? Ein moderner Maschinist stellt einfach mit einem Handgriff die Kraftquelle ab, welche die Mascine antreibt. Kein deutscher Soldat kämpft für den Kaiser und seine Generäle. Alle kämpfen nur für ihr Vaterland, um ihre Heimat zu schützen und schnellstens den Frieden herbeizuführen. Gewiss, der Kaiser hat den Krieg angefangen. Aber auch wenn der Eigentümer sein Haus anzündet, müssen die Feuerwehrleute den Brand löschen.

 

Ich machte auch folgende Vorschläge:

 

1.)        Ich gründe ein deutsches Revolutionskomitee zur Vorbereitung der deutschen Republik und des Friedensschlusses.

 

2.)        Ihr setzt mich gleichzeitig mit Euren Alliierten in Verbindung, vor allem mit der britischen Regierung. Denn die Sache kann nur mit einem Schlag bei gemeinsamer Arbeit gelingen.

 

3.)        Das Revolutionskomitee schließt mit der Entente einen provisorischen Friedensvertrag. Er tritt erst in Kraft, wenn das deutsche Volk die Hohenzollern stürzt und (sich) die deutsche Republik unter Abschaffung aller Königreiche und Fürstentümer durchsetzt und die Waffen niederlegt. Das deutsche Gebiet bleibt unversehrt; nur die Bewohner Elsass-Lothringens haben innerhalb 6 Monaten nach Friedensschluss darüber abzustimmen, ob sie, ganz oder teilweise, zu Deutschland oder zu Frankreich gehören wollen. [6]

 

4.)        Bis zur Abstimmung bleiben die französischen Armeen hinter der bisherigen deutschen Grenze, also hinter den Vogesen. Die deutschen Heere ziehen sich hinter den Rhein zurück; die Engländer besetzen Elsass-Lothringen und überwachen die Abstimmung.

 

5.)        Die europäischen Kolonien in Afrika werden zu einem grossen Kolonialreich vereinigt, mit gleicher Niederlassungs- und Handelsfreiheit für alle Weissen. Die einzelnen Provinzen verwalten sich selbst unter Gouverneuren, welche die in der Provinz ansässigen Weissen in freier Abstimmung wählen.

  

6.)        Die Alliierten stellen sofort an der Westfront mindestens 100 Flugzeuge in den Dienst dieser Sache zur Verbreitung unserer Flugblätter und Aufklärungsschriften, vor allem aber zur Erteilung unserer Befehle an die deutschen Truppen und das Hinterland. Denn ein Erfolg ist nur zu erzielen, wenn die Befehle, z.B. Generalstreik, Übergang ganzer Regimenter und Divisionen, mit einem Schlag hinausgehen und befolgt werden können.

 

7.)        An allen geeigneten Stellen der Front sind Einrichtungen zu treffen, wo deutsche Soldaten möglichst gefahrlos übergehen und sich dem deutschen Revolutionskomitee zur Verfügung stellen können. Aus diesen Soldaten und den in den Kriegsgefangenenlagern sich anmeldenden deutschen Gefangenen wird eine deutsche Legion zusammengestellt, die als Sturmtruppe der deutschen Revolution die deutsche Front mit sich reisst. Die Kriegsgefangenen, die sich nicht hierzu melden, bleiben zur Verfügung der Alliierten zum Wiederaufbau der in Belgien und Nordfrankreich zerstörten Gebiete..

 

8.)        Sobald diese Vorschläge akzeptiert werden und ihre Ausführung durch Bereitstellung der Flugzeuge und einer Druckerei für die Herstellung der Flugschriften sichergestellt ist, verpflichte ich mich, innerhalb 3 Monaten die Hohenzollern zu stürzen und die deutschen Heere über den Rhein zurückzuführen.

 

Auf Wunsch des französischen Kriegsministeriums verfasste und übergab ich noch im Jahre 1916 drei Schriften im Umfang der bekannten Reklambändchen: eine Gedichtsammlung "Sturmläuten", eine Anklageschrift gegen den deutschen Kaiser und eine Schrift " Kaiser und Krieg oder Freistaat und Frieden", deren Veröffentlichung und Verbreitung ich nur unter der Bedingung gestattete, dass ein Vertrag mit den Alliierten im Sinne meiner Vorschläge zusammenkomme. Unter dieser Bedingung hielt ich das Verlangen des Kriegsministeriums für berechtigt, da die französische Regierung sich doch keinem völlig Unbekannten anvertrauen konnte. Ich entwarf dann auch noch einen aus etwa 20 Paragraphen bestehenden Friedensvertrag mit einer Annex über die Abstimmung in Elsass-Lothringen sowie eine Verfassung der deutschen Republik und schrieb im Januar - Februar 1917 eine grössere, zur Verbreitung in Deutschland und Aufklärung des deutschen Bürgertums bestimmte Broschüre "Deutschlands Gegenwart und Zukunft", ausserdem ein in französischer Sprache abgefasstes Memorandum für die Mitglieder der französischen Regierung, die Senatoren und die Deputierten.

 

[7] Meine Bedingungen wurden nicht eingehalten. Ich selbst wurde als Kriegsgefangener behandelt, aber in strengstem Gewahrsam gehalten. Jeder Verkehr mit der Aussenwelt wurde abgeschnitten. Mein Briefwechsel musste eine doppelte Zensur durch die Kriegsgefangenenverwaltung und das Kriegsministerium passieren. Der von dem obersten Kommandeur des Kriegsgefangenenwesens, einem General, für mich ausgewählte französische Offizier, ein Universitätsprofessor, bekannter Laryngologe, der die deutsche und englische Sprache beherrschte und die deutschen und englischen Verhältnisse kannte - er hatte vor dem Krieg auch auf deutschen Universitäten Ferienvorlesungen gehalten -, war ein warmer Befürworter und Förderer meines Planes. Er wurde dafür im Kriegsministerium verhöhnt: "Der nimmt das ernst." Alle seine Bemühungen, die englische Regierung oder Öffentlichkeit für mich zu interessieren, wurden vom französischen Kriegsministerium durchkreuzt. Es kam sogar bis zu seiner permanenten Bespitzelung und zu einer Haussuchung in seiner Privatwohnung. Ich war ständig von Spitzeln umgeben, im Kriegsministerium von den Einen für einen nicht ernst zu nehmenden Phantasten, von Anderen für gemeingefährlich gehalten; zwei Dolmetscheroffiziere im Kriegsministerium hatten anscheinend den wahnwitzigen Plan, mit meinen Ideen die deutsche Revolution ohne mich zu machen. Ich erhielt nicht einmal eine Schreibmaschine trotz wiederholter Bitten. Ein Offizier im Kriegsministerium erzählte in den Couloirs als amüsantes Curiosum, sie hätten jetzt einen deutschen Kriegsgefangenen, der einen Sekretär und eine Schreibmaschine haben wolle. Über mein eigenes Geld durfte ich nicht verfügen und bekam davon nur wöchentlich 10 Franken in Kriegsgefangenengutscheinen für Ankäufe in der Kantine. Ich befand mich in einem Hexenkessel von Arglist, Intrigen, Misstrauen, Organisationsunfähigkeit, Unwissenheit und Verlogenheit.

 

Aber sehr ernst nahm mich die deutsche Heeresleitung. Kaum waren Ende 1916 im Oberelsass die ersten Exemplare von "Sturmläuten" aufgetaucht, so setzte des dortige Kommando eine Prämie von 10 Mark für jedes unversehrt abgelieferte Exemplar aus. Natürlich hatte das zur Folge, dass die Exemplare vorher erst recht von den deutschen Soldaten begierig gelesen wurden. Das Lokalblatt von Thann (Oberelsass), das die Nachricht brachte, wurde mir selbst von einem Offizier des französischen Kriegsministeriums vorgelegt, ohne dass sich dadurch das Mindeste in der Sache und in meiner persönlichen Behandlung geändert hätte.

 

Als die Vereinigten Statten im Frühjahr 1917 in den Krieg eintraten, wurde in New York von einem Dr. Frank Bohn eine Union of the friends of German democracy gegründet. Ich erfuhr davon und schrieb einen Brief an den Verein, welchem ich die beiden Bändchen Anklageschrift und "Kaiser und Krieg" beilegte. Mein Pseudonym war Siegfried Balder. Brief und Beilagen passierten unbeanstandet die Zensur. Sie erregten in Amerika ungeheueres Aufsehen, wurden - ohne mich um Erlaubnis zu fragen – ins Englische übersetzt, in vielen Tageszeitungen der Vereinigten Staaten abgedruckt und von dem Senator Owen im Senat in Washington vorgelesen. Dies teilte mir Dr. Frank Bohn mit unter Beifügung der englischen Übersetzung meiner beiden Schriften. Hätte man mich um Erlaubnis gefragt, so hätte ich die Bedingung gestellt, dass man mich erst aus der französischen Gefangenschaft befreie und nach Amerika oder England bringe.

 

[8] Nicht einmal meine für die französischen Minister, Senatoren und Deputierten bestimmte Schrift in französischer Sprache wurde vervielfältigt und ihrer Bestimmung zugeführt. Sie verschwand in irgendeiner Schublade des Kriegsministeriums.

 

Ich übergehe die Einzelheiten und den weiteren Verlauf bis zur Revolution. Sie müssen einem Buch vorbehalten werden.

 

Erst viele Jahre nach dem Krieg wurde das Geheimnis des Pseudonyms Siegfried Balder in Deutschland gelüftet, zufällig durch eine Karikatur des bekannten frühereren Simplizissums-Zeichners Hansi (sein wirklicher Name ist Johann Jakob Waltz) in einem französischen Buch.  Ein Archivrat Dr. Hans Thimme veröffentlichte 1932 im Verlag Cotta Stuttgart-Berlin ein Buch von etwa 300 Quartseiten "Weltkrieg ohne Waffen" - gemeint ist "Weltkrieg nur mit den Waffen des Geistes" -, mit vielen aus Unkenntnis der wirklichen Vorgänge und Beweggründe herrührenden Irrtümern, streng deutschnational, aber im ganzen eine fleissige und auch dem Gegner gegenüber anständige Arbeit. Viele Seiten des Buches beschäftigen sich mit mir. Sie legen Zeugnis ab von der ungeheueren Wirkung meiner Schriften, obwohl sie von den Franzosen missbraucht und entstellt und durch das Nichteingehen auf meine Vorschläge der Hauptwirkungskraft beraubt waren. Ein Times-Korrespondent schrieb am 31. Oktober 1918: "Die gute Propaganda ersparte der Entente höchstwahrscheinlich ein Kriegsjahr, das bedeutet die Ersparnis von Milliarden und wohl mindestens von einer Million Menschenleben." Wenn ich davon nur hunderttausend auf mein Konto buchen darf, so bin einer der grössten Lebensretter der Menschheit. Ich hätte aber mindestens zwei Kriegsjahre erspart und zwei Millionen Menschenleben gerettet ohne die Obstruktion des französischen Militarismus.

 

Wir stehen wieder dicht am Randes des Kraters vor dem Ausbruch des Vulkans. In Wirklichkeit hat der Weltkrieg bis heute noch nicht aufgehört. Die durch die sogenannten Friedensschlüsse beschäftigungslos gewordenen Offiziere und von Nahrungssorgen geplagten Rüstungsfabrikanten schürten das Höllenfeuer im Baltikum und in Oberschlesien, in Griechenland, in den Kreuzzügen von Wrangel, Judenitsch, Denikin, Petljura, Koltschak gegen Sowjetrussland, in den heute noch nicht beendeten Bürgerkriegen gegen das von dem grossen Demokraten Sunjatsen geschaffene chinesische Reich, in Bolivien (Hauptmann Röhm!), in Marokko, Abessynien, Palästina. Fürchterlich steigen bereits die Schwefeldämpfe der nächsten grossen Eruption des Militarismus gegenwärtig in Spanien zum Himmel und fallen als Fliegerbomben und Brandgranaten auf die Wohnstätten des friedlichen Volkes. Es sind Manöver zur praktischen Übung der deutschen Flieger für den kommenden Weltkrieg. Das spanische Volk zahlt die Kosten mit verwüsteten Städten und mit Flughäfen und Schlupfwinkeln für die deutschen Unterseeboote.

 

Mit erstaunlicher Zielsicherheit, ganz anders wie vor dem Weltkrieg, unterminieren und sprengen die faschistischen Regierungen durch ihre Diplomatie die Bündnisse der demokratischen Staaten. Sie vernebeln ihre eigenen Bürger durch strengste Zensur, durch Ausrottung jeder Meinungsfreiheit, durch Erziehung der unwissenden Jugend zum Ideal des Massenmordes, durch Verfälschung aller Begriffe von Recht, Freiheit und Ehre, durch [9] Tötung, Ächtung, Einsperrung und Verjagung aller Jener, deren Geist sie nicht verdummen, deren Mut sie nicht einschüchtern, deren Ehre sie nicht beflecken können.

 

In tausend Kanälen spritzen sie ihr Gift in die demokratischen Völker. Die ganze Wohlfahrt und Kultur Europas ist, wie noch nie zuvor, für Generationen bedroht. Aber was tun die bedrohten Völker und ihre Regierungen dagegen?

 

Sie überlassen es ihren Generalstäben, ihren Rüstungsfabrikanten, den Exponenten ihres eigenen Militarismus, dagegen Vorkehrungen zu treffen. Als in der Hauptsache Männern, die selbst mit dem Faschismus und der Diktatur liebäugeln und ihren Kollegen von der anderen Seite an den Grabmälern der unbekannten Soldaten freundschaftlich-verständnisvoll die Hände schütteln.

 

Wissen die bedrohten Völker, dass ihr stärkster Bundesgenosse, der Einzige, auf den sie unbedingt zählen können, die unter dem Joch des Faschismus schmachtenden Völker sind, wenn sie sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken? Wissen sie, was die strategische Aufgabe des nächsten Krieges ist? Sie lautet: die deutsche Revolution mit dem Sturz des Hitlertums und der Zertrümmerung des deutschen Militarismus ist nicht erst vier Jahre nach Kriegsbeginn ins Auge zu fassen, sondern möglichst innerhalb vier Tagen nach Beginn der Feindseligkeiten herbei- und durchzuführen.   

 

Diese Aufgabe ist lösbar; aber nur mit Hilfe der deutschen Patrioten, die ihr Volk kennen und lieben, und nur wenn man diese Männer nicht als lästige Ausländer von der Schwelle weist oder in Konzentrationslager einsperrt, sondern ihnen aufrichtige Gastfreundschaft und angemessene Handlungsfreiheit gewährt. Aber auch dann kann die Sache nicht erst bei Kriegsausbruch improvisiert werden, sondern muss mit der gleichen Sorgfalt und Umsicht vorbereitet werden, wie es der deutsche Generalstab zu tun pflegt.

 

Wie der deutsche Militarismus es schon im Weltkrieg verstanden hat, seine Propaganda mitten ins Herz des Gegners zu treiben und was für erstaunliche Leistungen er damit vollbracht hat, darüber gibt ein Buch "Bolo Pascha" Aufschluss, das ich eben vollende. Mit dieser Intrige, vielleicht der grössten der Weltgeschichte, hat der verbündete deutsche und französische Militarismus sich gegen Wilson, gegen Lloyd George, gegen die russische Revolution durchgesetzt und seine Fortexistenz zum Schaden der Menschheit für Jahrzehnte gesichert.

 



[1] Hier täuscht sich die Erinnerung des 64-jährigen Eckstein gewaltig: Der "konkurrierende" Mitschüler am WG war der spätere Gutsbesitzer von Roggenburg (u.a.m.) Alfons Grf. v. Mirbach-Geldern-Egmont (* 3.6.1872 München, + 20.4.1964 Roggenburg). Der am 6.7.1918 (!) ermordete Botschafter hieß Wilhelm v. Mirbach-Harff.

[2] 1867 Absolvent des WG

[3] Vgl. dazu die Rezession in der Münchener Allgemeinen Zeitung vom 4.10.1893, online: http://www.kraus.wienbibliothek.at/content/rezension-der-allgemeinen-zeitung-muenchen

[4] + 10.3.1906

[5] Auch hier verwechselt Eckstein so einiges (vgl. Anm. 1): Deutscher Botschafter in Athen, allerdings erst 1915, war der oben erwähnte Wilhelm v. Mirbach-Harff, der nicht Schüler des WG war (vgl. Einträge in wikipedia und NDB)

[6] Ottmar Hubert Ludwig Sebastian Frh. v. Gumppenberg (1888-1858)

[7] Alfons Falkner v. Sonnenburg (1851-1929)