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"Würmer, Frösche und anderes Geschmeiß"

Wie der Kampf zwischen Bayern und Preußen ausgerechnet am Wilhelmsgymnasium getobt hat
 

von

Dr. Rolf Selbmann und Peter Kefes
 
 

1. Der Hintergrund: "Das dumme Pfaffenvolk in Bayern"
 

Bayern und Europa um 1800: Napoleon schickte sich an, ganz Europa zu beherrschen. Die Bayern, schlau wie sie sind, waren rechtzeitig aus der antinapoleonischen Koalition ausgeschieden und hatten sich mit dem genialen General und baldigen Kaiser verbündet. Frankreichs Gegenleistung für seinen treuesten deutschen Verbündeten blieb nicht lange aus. Der bayerische Kurfürst wurde 1806 König von Napoleons Gnaden, das Land vergrößerte sich durch Gebietsgewinne im Zuge der Säkularisation und Mediatisierung um mehr als das Doppelte. Aus einem unbedeutenden Fürstentum in der Nachbarschaft des großen Österreich war eine europäische Mittelmacht geworden.

Dieses neue Königreich, zusammengestückelt aus politisch, kulturell, konfessionell und wirtschaftlich unterschiedlich strukturierten Einzelteilen, mußte in relativ kurzer Zeit zu einem modernen Staat zusammengefaßt und umgestaltet werden, wenn es dauerhaft Bestand haben wollte. Die Reformen des Staatskanzlers Montgelas sind bekannt; sie zielten auf die Umsetzung der Ideen der Aufklärung, der Staatsräson und des Verwaltungsrechts in einem noch agrarisch, feudal und kirchlich geprägten Land.

Aus der Sicht braver katholischer Untertanen, des ehemals mächtigen Adels und des Klerus waren das trübe Aussichten. Der Jesuitenorden war aufgelöst, die Kirche entmachtet und enteignet, der weltliche Staat hatte auch die letzten ererbten Herrschaftsrechte an sich gerissen. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Protestantische Gelehrte aus Norddeutschland drängten nach Bayern, um der geistig rückständigen Bevölkerung die Aufklärung beizubringen; sie übernahmen höchste Positionen, wußten und machten natürlich alles besser, wurden fürstlich bezahlt und bekamen auch noch Orden. Die braven Bayern waren völlig verdattert ob der karrierebewußten Nordlichter.

Neben solchen braven Bayern, die von den guten alten Jesuitenzeiten träumten und am liebsten die Säkularisation rückgängig machen wollten, gab es auch andere. Diese aufgeklärten altbayerischen Köpfe hatten, obwohl selbst meist aus dem geistlichen Stand stammend, mit klerikaler Dunkelmännerei nichts im Sinn. Sie versuchten im Geist der Staatsreform Montgelas' auf das Bildungs- und Erziehungswesen Einfluß zunehmen und es der neuen Zeit anzupassen. Die Trennung von Kirche und Staat, das Ende des kirchlichen Bildungsmonopols und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1802 waren die ersten administrativen Schritte auf diesem Weg. Die Reformer gingen aber noch weiter. Sie entwarfen Lehrpläne, in denen neben dem bisher gepflegten Lateinunterricht Sachfächer wie Deutsch und Mathematik, Geschichte, Geographie und Naturkunde eingeführt wurden. Dieser sogenannte Wismayrsche "Lehrplan für alle kurpfalzbaierischen Mittelschulen", der schon 1804 in Kraft trat, orientierte sich an den 'Realien', den Bildungs- und Lebensbedürfnissen breiterer bürgerlichen Schichten.

Cajetan Weiller, der am Wismayr-Lehrplan entscheidend mitgearbeitet hatte, war einer jener heute zu Unrecht vergessenen altbayerischen Aufklärer. Weiller, als Sohn eines Handwerkers 1762 in München geboren, war Schüler des Wilhelmsgymnasiums, Weltgeistlicher und Lehrer für Mathematik, Geschichte und Religion. 1799 wurde er Professor der praktischen Philosophie und Pädagogik am dem Wilhelmsgymnasium zugeordneten Lyceum, im gleichen Jahr noch dessen Rektor. Von 1809 bis 1823 war er Direktor des Wilhelmsgymnasiums, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Träger des persönlichen Adelstitels. 1826 ist er in München gestorben. Um Weiller, der auch als pädagogischer und philosophischer Schriftsteller, vor allem aber als einflußreicher Schulreformer in Erscheinung trat, sammelten sich die bayerischen "Realisten".

Der Schulkampf, der eigentlich eine Auseinandersetzung um Bildungsprinzipien und Lebensformen war, entbrannte, als immer mehr Protestanten, oft über die Zwischenstation der Universität Würzburg, nach München berufen wurden. Friedrich Heinrich Jacobi aus Düsseldorf war Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften geworden; neben dem Numismatiker Adolf Heinrich Friedrich von Schlichtegroll und dem Historiker Friedrich Wilhelm Breyer hatte sich der Philosoph Friedrich Schelling in München eingefunden. Vor allem die spekulative Naturphilosophie Schellings, der sehr schnell einen Kreis politisch einflußreicher Anhänger um sich bildete - auch der Kronprinz Ludwig gehörte dazu -, bedrohte die altbayerische Richtung der Aufklärung. Nimmt man hinzu, daß 1808 der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum Direktor des Nürnberger Ägidiengymnasiums berufen wurde, so zeichnete sich ganz deutlich eine paradigmatische Abwendung von der bisher unangefochtenen Philosophie Kants ab.

Doch damit nicht genug. 1807 hatte König Max I. Joseph den bekannten Altphilologen Friedrich Jacobs als Professor an Gymnasium und Lyceum nach München berufen, um eine Umorientierung des Schulwesens im Geist des Neuhumanismus einzuleiten. Den Auseinandersetzungen zwischen diesen "Humanisten" und den einheimischen aufklärerischen "Realisten" war Jacobs nicht gewachsen; er kehrte 1810 nach Gotha zurück. Der auf seine Empfehlung und als sein Nachfolger 1809 aus Sachsen berufene Altertumswissenschaftler Friedrich Thiersch, über den noch ausführlich zu handeln sein wird, wußte also, was ihn erwartete. Thiersch scheiterte nicht. Als Professor an Gymnasium und Lyceum, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und als Erzieher der Töchter des Königs baute sich Thiersch entscheidenden politischen Einfluß auf, den er weidlich nutzte. Spätestens mit der Thronbesteigung des Kronprinzen als König Ludwig I. 1825 hatten sich Thierschs bildungspolitische Vorstellungen, die an einem rigiden Neuhumanismus ausgerichtet waren, durchgesetzt. Der bayerische Schulplan von 1829 und 1830, nach dem der Unterricht in den Gymnasien so gut wie vollständig auf das Erlernen des Lateinischen und Griechischen zurückgeschraubt wurde, schrieb den Sieg des neuhumanistischen Bildungsideals fest.

Noch aber war es nicht so weit. Denn die Altbayern dachten nicht daran, den Nordlichtern das schulische Streitfeld kampflos zu überlassen. Den Boden für den endlichen Sieg des Neuhumanismus bereitete indes Friedrich Immanuel Niethammer, der 1804 mit Schelling, dem Theologen Paulus, dem Juristen Hufeland und dem Mathematiker Stahl aus Jena nach Würzburg berufen worden war. 1807 wurde Niethammer Zentralschulrat im neugebildeten bayerischen Ministerium des Innern, 1808 Oberschulrat für die öffentlichen Unterrichtssachen mit besonderer Zuständigkeit für die protestantische Konfession. Im gleichen Jahr hatte Niethammer mit seiner Schrift "Der Streit des Philanthropismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit", in der er die Realisten als Philanthropen bezeichnete, den Humanismus zum Programm erhoben. Der von der Aufklärung propagierte Sachunterricht berge, so Niethammer, die Gefahr des Enzyklopädismus. Wie die neue humanistische Bildung aussehen sollte, zeigte das von Niethammer 1808 verfaßte "Allgemeine Normativ der Einrichtung der öffentlichen UnterrichtsAnstalten in dem Königreiche Baiern", das den Wismayrschen Schulplan ablöste. Die damals eingeführte gemeinsame Mittelschule wurde jetzt zugunsten einer Zweiteilung in Gymnasien, in denen vorwiegend die klassischen Sprachen getrieben wurden, und in Realschulen aufgegeben. Niethammer war entschlossen, sein Konzeption gegen alle Widerstände - übrigens auch von seiten der Neuhumanisten - durchzusetzen. Dieser heftige Einsatz Niethammers ging selbst seinen Sympathisanten zu weit. Georg Friedrich Freiherr von Zentner, einer der führenden bayerischen Staatsmänner dieser Zeit, Staatsrechtler und als Referendär im Ministerialdepartement der geistlichen Gegenstände für die Schulreform politisch verantwortlich, konnte der kompromißlos vorgetragenen Haltung Niethammers nicht bedingungslos folgen. Das Nordlicht Adolf Heinrich Friedrich von Schlichtegroll, sicher ein wohlwollender Betrachter der Szene, schrieb darüber an das heimgekehrte Nordlicht Friedrich Jacobs:

"Niethammer kann nichts thun; er hat durch seine harten Formen, durch sein pedantisches Beharren auf Nebendingen den Eigensinn der Gegenpartey geweckt u. gestählt, wie es sonst, bey unsrer[!] allgem. Schlaffheit, gar nicht möglich gewesen wäre."
 
 

2. Ereignisse: "gränzenlose Aenderungs-Begierde"
 
Am 19. August 1809 bat der Direktor des königlichen Gymnasiums Cajetan Weiller den König um seine Entlassung (Dokument 1). Was war geschehen? Weiller hatte mit Geheimrat von Zentner, dem leitenden Beamten des Ministeriums und Vorgesetzten Niethammers, den Ablauf der Schulprüfungen für das Jahr 1809 besprochen. Während Zentner zur Erholung ins Bad fuhr, nutzte Niethammer die Gunst der Stunde und änderte diese Verabredungen eigenmächtig, ohne Weiller zu informieren, der erst am Abend vor dem ursprünglichen Prüfungsbeginn davon erfuhr, so daß ihn sogar die Schüler auslachten. Der Kollege Thiersch - da ist er wieder! - war anscheinend in die Pläne eingeweiht und hatte seine eigenen Schüler davon unterrichtet. Der erboste Weiller stürmte mit seinem Kollegen Meilinger als Zeugen zu Niethammer und stellte ihn wegen dieser "prostituierenden Schikane" zur Rede.

Der Leser des Aktenstücks merkt schnell, daß der Beschwerdegrund Weiller kaum mehr als den Anlaß liefert, seinen Unmut gegen Niethammer loszuwerden. Vordergründig geht es sicherlich um die eigenmächtigen Maßnahmen Niethammers; in Wirklichkeit erregt sich Weiller über Niethammers Schulreform, die seiner Meinung nach von Neuerungssucht geprägt ist; es geht gegen die mit einer gränzenlosen Aenderungs-Begierde, mit einer eben so großen Verachtung als Unbekanntheit alles dessen, was bisher bey uns war, und folglich mit einer sehr bedeutenden Illiberalität verbundenen Unfehlbarkeit dieses Mannes.

Weiller formuliert die "gewaltige Kluft" zwischen ihm und Niethammer, der nicht nur nichts "für unsere Gegenden" und "die Bedürfnisse unseres Landes" tue, sondern auch - als ehemaliger Universitätsprofessor - vom Schulwesen nichts verstehe." Hier stoßen "dreysig Jahre eigner Erfahrung" mit bloßen "Hypothesen" zusammen. Vorsichtig muß sich Weiller dennoch verhalten, ist doch das Niethammersche Normativ die gültige und damit politisch gewollte Vorschrift für das Schulwesen. Deshalb versichert Weiller, "um jeder Mißdeutung vorzubeugen" und "in schuldiger Unterthanspflicht", so gilt die Klage nicht das nun ein Mahl bestehende[!] Gesetz, sondern nur sein erstes Projekt und seinen ersten Projektanten.

Der aus dem Bad zurückgekehrte Zentner hat wohl Weillers Unmut in einem persönlichen Gespräch besänftigt und ihm seine Rücktrittsabsichten ausgeredet; Zentner notiert deshalb: nach mündlichem Benehmen mit dem Director Weiller kann nunmehr desselben Beschwerde auf sich beruhen.

Am 22. Oktober 1809 beschwert sich nun seinerseits Niethammer über Weiller "wegen einer groben Beleidigung" (Dokument 2). Niethammer weist die Vorwürfe Weillers, er sei ein "Schikanör" und "Hudler", zurück und teilt sich in zwei Hälften. Seinem "persönlichen Charakter" mache die Sache gar nichts aus, seinem "amtlichen Charakter" aber sehr wohl; er fordert daher von Weiller eine "solenne Satisfaction". Am liebsten wäre es ihm freilich - man sieht, worauf es hinausläuft -, "wenn der Rector Weiller seine Entlassung wirklich fordern und erhalten würde". Doch der ist mittlerweile ja "zur ferneren Beibehaltung des Rectorats ermuntert worden"!

Zentner, der inzwischen offenbar gemerkt hat, daß es sich um den Vorwand für Grundsatzstreitigkeiten handelt, versucht einen abwiegelnden Kompromiß. Am 5. November 1809 beantwortet er Niethammers Beschwerde, Weiller werde "nachdrücklichst zurecht gewiesen werden", ansonsten handle es sich um "zufällige Mißverständnisse und Klätschereien", so daß "die verlangte weitere Genugthuung nicht stattfinde".

Niethammer läßt jedoch nicht locker. Am 18. Februar 1810 schiebt er eine weitere Beschwerde nach (Dokument 4), die den bisherigen geringfügigen Anlaß in eine politische Dimension ausweitet; es gehe jetzt um eine "wider ihn und respective wider die Regierung, bei dem hiesigen Publicum in Umlauf gesetzte gefährliche Verleumdung". Niethammer scheint klar geworden zu sein, daß Weillers Vorwürfe nicht bloß eine persönliche Abrechnung mit einem bildungspolitischen Gegner darstellen. Denn der Vorwurf, der Protestant Niethammer fördere den Religionsunterricht der Protestanten und verhindere denjenigen der Katholiken, enthält politische Brisanz. Ob dieser Vorwurf in der Sache zutrifft oder, wie Niethammer behauptet, durch Sachzwänge nur so aussieht, stehe dahin. Auch die erneute Sonderstellung Friedrich Thierschs ("versteht sich den Prof. Thiersch ausgenommen") und sein Einsatz für die Intensivierung der alten Sprachen ("vor lauter Latein und Griechisch nicht ein Mahl eine Stunde freigelassen") sollen vorläufig außer Betracht bleiben. Ebenso ist hier die Spitze gegen Weiller, er habe das Niethammersche Normativ "gar nicht gelesen, oder er verläugnet dessen Inhalt", zu übergehen.

Entscheidender sind vielmehr die unmittelbaren Auswirkungen der Konfessionsgegensätze auf die staatliche Integrationspolitik im neuen Königreich. Zwar garantierte Bayern seit 1800 das Niederlassungsrecht für Nichtkatholiken, gewährte seit 1803 ein Toleranzedikt und die entsprechenden Bestimmungen der Verfassung von 1808. Doch der Kronprinz und spätere König Ludwig I. zeigte durch seine Religionspolitik mit der Restaurierung ehemals säkularisierter Klöster oder dem berüchtigten Kniebeugeerlaß, daß von wirklicher konfessioneller Gleichberechtigung keine Rede sein konnte. Aber nicht nur die erdrückende katholische Mehrheit in Altbayern konnte es gefährlich werden lassen, "hier unter dem Volke einen allgemeinen Religionshass aufzuregen". Niethammer sah in Weiller nicht zu Unrecht einen Anhänger der sich um Johann Christoph von Aretin scharenden Einheimischen, die bei der Auseinandersetzung mit den Berufenen die Konfessionszugehörigkeit mit der Frage nach der politischen Verläßlichkeit verknüpften. Aretin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und verantwortlich für die Übernahme der Bibliotheksbestände der säkularisierten Klöster in Staatsbesitz, hatte 1809 in einer anonymen Schrift "Die Plane Napoleon's und seiner Gegner besonders in Teutschland und Oesterreich" die Norddeutschen als blutleere Schöngeistler (im Unterschied zur Lebensfreude der Süddeutschen) karikiert. Politisch gefährlicher aber war, daß Aretin den protestantischen Norddeutschen deutschnationale Interessen und damit Konspiration gegen Napoleon und zugunsten Österreichs unterstellte. Ein solcher Verdacht war nicht ungefährlich, war doch der Nürnberger Buchhändler Palm für den Druck der patriotischen Schrift "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung" 1806 hingerichtet worden.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre ist Niethammer nicht mit der feinsinnigen Abwiegelung Zentners geholfen, der vermerkt, "nach der dem Beschwerdeführer ertheilten Aufklärung[!] mag diese Klage auf sich beruhen." Er will den Vorwurf der Behinderung des Katholizismus möglichst aus der Welt schaffen. In einem Schreiben "in der höchsten Eile" an Zentner vom 20. Februar 1810 (Dokument 5) versucht Niethammer nochmals, "die Lügenhaftigkeit der von dem Rector Weiller wider mich (eigentlich wider die Regierung) ausgestreuten Beschuldigung augenscheinlich darzuthun". Er begibt sich zu Lorenz von Westenrieder, wie Weiller ein ehemaliger Schüler des Wilhelmsgymnasiums, bedeutendster bayerischer Aufklärer, Geschichtsschreiber und einflußreicher Beamter, um sich durch dessen Autorität abzusichern. Wie Westenrieder, ein erklärter Gegner der Berufung norddeutscher Protestanten, darauf reagiert hat, vermeldet Niethammer wohlweislich nicht. In Westenrieders Tagebüchern liest man es genauer. Unter der Eintragung vom 17. Februar 1810, also noch vor Niethammers zweiter Beschwerde (Dokument 4), heißt es da:

"Den 17. Hornung stellte ich in der akademischen Abendgesellschaft in Gegenwart des akademischen Präsidenten den Schulrath Niethammer, einen norddeutschen Protestanten sehr ernstlich darüber zur Rede, dass in unsern niedern deutschen oder bürgerlichen, und in den niedern Studentenschulen kein katholischer Catechismus eingeführt sey, nachdem doch ja die protestantischen Schüler in ihrem Dogma fleissig unterrichtet würden."

Auch Westenrieder scheint also in der Substanz Weillers Vorwürfe unterstützt zu haben. Eine Eintragung Westenrieders vom 19. Februar 1810 berichtet schließlich, wie Niethammers Besuch beim ihm abgelaufen ist:

"Abends [kam] der Rath Niethammer zu mir, und las mir eine Schrift vor, von welcher er das Original so eben dem Hrn. g. R. von Zentner übergeben hat, um ihn von meinen Erinnerungen in Kenntnis zu sezen. Ich sagte, daß alles abgethan seyn würde, wenn er es dahin brächte, dass wirklich ein katholischer Catechismus vorgeschrieben würde."

Die Vorwürfe gegen Niethammer waren also nicht so ganz aus der Luft gegriffen.
 


3. Schluß: "literarisches und pädagogisches Gesindel"
 

Die wechselseitigen Beschwerden gewähren also bei genauerer Betrachtung tiefe Einblicke in einen Teil des bayerischen Schulkampfs zwischen Realisten und Humanisten, zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Altbayern und Norddeutschen, der vom Wilhelmsgymnasium ausging und noch lange nicht zu Ende war. Friedrich Thiersch, in dessen Klasse pikanterweise Karl Maria, der Sohn Johann Christoph von Aretins, saß, griff publizistisch in den Nord-Süd-Streit ein, obwohl der König dies ausdrücklich untersagt hatte. In seiner im Vergleich mit Aretins Streitschrift eher langatmigen und bläßlichen Abhandlung "Betrachtungen über die angenommenen Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland" versuchte er 1810 der norddeutschen Aufklärung süddeutsche Kulturlosigkeit entgegenzustellen. Als am 28. Februar 1811 ein maskierter Mann ihn überfiel und gefährlich verwundete, erklärte Thiersch den Anschlag sofort als das politische Attentat aus dem Umkreis seiner altbayerischen Gegner, ohne dies beweisen zu können (Heute weiß man, daß es sich um die Aktion eines eifersüchtigen Liebhabers gehandelt hat). Thierschs Behauptung begründete aber die Legende des mit seinem Leben für seine Sache einstehenden Wissenschaftlers.

Der Staat indessen tat so, als gehe die neuhumanistische Umstrukturierung des bayerischen Bildungssystems problemlos vonstatten. Der Bericht des Ministeriums des Innern über den Zustand der Erziehungsanstalten im Königreich Bayern vermerkt am 26. Juni 1810, daß die Neueinrichtung des Schul- und Studienwesens schon im ersten Jahr ... eine sehr wohltätige und erfreuliche Wirkung gezeigt hat und um so mehr für die Folge, wenn die aufgestellten Organe mit gleichem Eifer fortfahren, der die schönsten Hoffnungen weckt.

Aussagekräftiger ist da vielleicht der Rückblick. In einem Brief an den befreundeten Philosophen Hegel beklagt sich Niethammer, daß der Kampf in Bayern noch lange nicht ausgestanden ist. Mittlerweile hat sich nach dem Ende Napoleons und des revolutionären Umbruchs die Restauration breitgemacht. Mit den alten Aufklärern verbünden sich nun die ewig Gestrigen. Da hilft nur noch die selbstgestrickte Legende vom Kampf "bis auf den letzten Mann", auch wenn das Bild sprachlich gewagt ist:

"Fürs dritte kommt jetzt meine Hauptangelegenheit. Wie die Würmer, Frösche und anderes Geschmeiß oft dem Regen nachziehen, so die Weiller und Konsorten dem trüben Tag, der sich über die ganze zivilisierte Welt ausbreitet. In der allgemeinen Sündflut, in der alles Veraltete zurückströmt, glaubt dieses literarische und pädagogische, wie das übrige Gesindel seinen Moment gefunden zu haben; und - ich fürchte fast, es hat ihn gefunden. Was daraus werden mag, ist mir an sich sehr gleichgültig; nicht bloß für meine Person, sondern selbst beinahe schon für die Sache. Das dumme Pfaffenvolk in Bayern mag faul und dumm bleiben, wenn man's so haben will - zum Glück bedarf die Bildung ihr Asyl nicht mehr in Bayern zu suchen, wo man sie ohnehin nur hereingelockt zu haben scheint, um sie totzuschlagen. Aber sie sollen uns doch nicht so im Stillen abtun und sie sollen uns nicht nach dem Schnitt vormaliger Mönchschulen unsere protestantischen Studienanstalten verstümmeln. Dagegen will ich mich wehren bis auf den letzten Mann, der ich noch zu sein hoffe."

Welche Rolle der berühmte Friedrich Thiersch, "Praeceptor Bavariae" und Vater des bayerischen Neuhumanismus, in dieser Auseinandersetzung spielt: demnächst an dieser Stelle.
 
 

Anhang: Dokumente

(Hauptstaatsarchiv München MInn 23638; Gegenseitige Beschwerden des Studienrektors Weiller und des Oberschulrats Niethammer)
 

Dokument 1: Beschwerde des Directors Weiller über das Verhalten des Oberstudienrats Niethammer; 19.8.1809

Dokument 2: Klage des Ober-Studienrats Niethammer gegen den Rector Weiller wegen grober Subbordinations-
                        Verletzung; 18.10.1809

Dokument 3: Antwort v.Zentners auf Niethammers Klage; 5.11.1809

Dokument 4: Anzeige Niethammers über einen bedenklichen Vorfall; 18.2.1810

Dokument 5: Schreiben Niethammers an den Geheim.Staatsrat v.Zentner, 20.2.1810

Dokument 6: Klage Weillers über das Verhalten Niethammers; 7.4.1810

Dokument 7: Schreiben Weillers an den König; 2.8.1810